Anlässlich des Deutschen Juristentags (djt) warnt der Deutsche Anwaltverein (DAV) vor der leichtfertigen Aufgabe des Unmittelbarkeitsprinzips bei der richterlichen Beweiswürdigung. Die Rechte der Verteidigung würden beschnitten, wenn lediglich eine aufgezeichnete Zeugenvernehmung abgespielt wird. Prozessökonomische Erwägungen müssen gegenüber dem Fair-Trial-Grundsatz hintanstehen.

Mit neuen technischen Möglichkeiten entstehen neue prozessuale Fragen. Kann die Aufzeichnung einer Zeugenaussage im Ermittlungsverfahren eine Vernehmung in der Hauptverhandlung ersetzen? In wenigen Fällen, etwa bei minderjährigen Zeuginnen und Zeugen im Kontext von Sexualstraftaten, sieht die Strafprozessordnung (§ 255a) bereits diese Möglichkeit vor. Der DAV kritisiert Überlegungen im Rahmen des djt, dies auszuweiten.

„Nach einem Ermittlungsverfahren, das in den Händen eines gut ausgestatteten staatlichen Apparates liegt, hat die Verteidigung in der Hauptverhandlung in aller Regel erstmals die Möglichkeit, Zeuginnen und Zeugen mit ihrer Aussage zu konfrontieren und geschilderte Sachverhalte zu hinterfragen“, erläutert Rechtsanwalt Stefan Conen, Mitglied des Ausschusses Strafrecht des DAV. Die Hauptverhandlung sei also mitnichten eine bloße Wiederholung oder gar Bestätigung des polizeilichen Ermittlungsverfahrens.

„Es mag in den bereits gesetzlich geregelten Einzelfällen gute Gründe für die Vorführung einer aufgezeichneten Zeugenvernehmung statt einer erneuten richterlichen Vernehmung geben, etwa den Opferschutz. Dabei ist es aber auch zu belassen“, mahnt der Strafverteidiger aus Berlin. Insbesondere seien prozessökonomische Erwägungen nicht geeignet, das Unmittelbarkeitsprinzip auszuhebeln.

Das Unmittelbarkeitsprinzip besagt, dass das Gericht den entscheidungserheblichen Beweisstoff selbst wahrnehmen muss. Dabei muss das Gericht das „sachnächste“, also das möglichst unmittelbare Beweismittel nutzen – in dieser Konstellation also den Zeugen selbst und nicht eine Aufzeichnung seiner Befragung durch Dritte. Dieses Prinzip ist nicht einfach juristischer Dogmatismus, sondern Ausdruck des verfassungsrechtlich garantierten Fair-Trial-Grundsatzes. Auch im Sinne der Wahrheitsfindung ist es nach Auffassung des DAV geboten, an der richterlichen Aufklärung von Sachverhalten festzuhalten – und diese nicht durch unkritischen Transfer polizeilicher Arbeit in die Hauptverhandlung zu ersetzen.

Quelle: Deutscher Anwaltverein, Pressemitteilung vom 21. September 2022

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